Das Mädchen aus dem wilden Wald

von Kahoka

Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte mit seiner Großmutter in einem kleinen Häuschen im Wilden Wald. Die Großmutter lehrte das Mädchen das alte Wissen über die Kräfte der Kräuter, Beeren, Pilze und Pflanzen. Sie brachte dem Mädchen die Sprache der Tiere und der Bäume bei und sorgte liebevoll für sie. Das kleine Mädchen war glücklich. Sie tollte fröhlich durch den Wilden Wald, spielte mit den Füchsen verstecken, kugelte mit den Kaninchen über die Waldlichtungen und rannte mit den Rehen durch das Unterholz. Abends ließ sie sich vom den Bäumen Gute-Nacht-Geschichten erzählen und schlief mit dem Gesang der Sterne ein.

Doch eines Tages, als das Mädchen mit einem Eichhörnchen um die Wette kletterte, brach ein morscher Ast unter ihr und sie fiel vom Baum, schlug mit dem Kopf auf und verlor das Bewusstsein. Da kam der König mit einer Jagdgesellschaft vorbei und fand das kleine Mädchen, das wie tot am Wegesrand lag. Er stieg vom Pferd und beugte sich zu der leblosen Gestalt hinunter. Da sah er, dass noch Leben in dem Kind war und befahl, sie mit auf sein Schloss zu nehmen. Die Ärzte des Königs erhielten den Befehl, sich nach bestem Wissen um das Kind zu kümmern. Als nach drei Tagen das kleine Mädchen die Augen aufschlug, fand sie sich in einem weichen Bett, wohl umsorgt, doch hatte sie all ihre Erinnerungen verloren. Da der König aber gefallen an ihr gefunden hatte, zog er das Findelkind auf wie seine eigene Tochter.

So lebte das Mädchen aus dem Wilden Wald von nun an als Prinzessin im Schloss des Königs. Sie wurde von den besten Gelehrten unterrichtet, die der König aus allen 4 Winden herbei rufen ließ. Sie lernte Geschichte und Mathematik, sprach viele Sprachen und entdeckte ihre Liebe zu den alten Büchern, die der König in einer riesigen Bibliothek zusammengetragen hatte. Manchmal hatte die Prinzessin nachts seltsame, wilde Träume voller Waldwesen, doch die Bilder zerflossen mit der Morgensonne und waren flüchtig wie der Frühnebel. Manchmal fand sich die Prinzessin auf den Zinnen des Schlosses, wie sie in Richtung des Wilden Waldes blickte, innerlich von unerklärlicher Sehnsucht erfüllt, doch auch diese Momente gingen vorbei und sie wand sich ab um ihren Studien nachzugehen oder um mit dem König durch die weitläufigen Gärten zu wandeln.

Eines Tages kam ein junger Prinz auf das Schloss um im Auftrag seines Vaters mit dem König zu verhandeln. Er sah die Prinzessin, die zu einer wunderschönen jungen Frau herangewachsen war und beide verliebten sich in einander. Aber als er um die Hand der Prinzessin anhielt überkam sie eine nie gekannte Traurigkeit, die ihr die Sprache raubte. So konnte sie nur den Kopf schütteln. Drei mal kehrte der Prinz zurück, warb um die Prinzessin und bat sie, seine Frau zu werden. Doch jedes Mal wies sie ihn ab, obwohl sie ihn doch liebte. Und so kam es, dass die Prinzessin immer tiefer in Schwermut versank. Ihr Lachen verstummte, nichts konnte sie aufheitern, und das ganze Schloss war bedrückt und sorgte sich um sie. Trübsal legte sich wie ein Schleier über die Bewohner und nicht einmal die weisen Berater des Königs wussten einen Ausweg.

In der nächsten Vollmondnacht stand die Prinzessin an ihrem Fenster, lauschte dem wehmütigen Gesang einer Nachtigall und weinte bitterlich. Sie verstand selbst nicht, was mit ihr geschah. Sie liebte den Prinzen, doch wusste sie tief in ihrem Herzen, dass sie ihn nicht heiraten konnte. Warum sie das wusste und was genau sie daran hinderte konnte sie jedoch nicht sagen. Da kam aus dem Mondlicht die Gestalt einer alten Frau auf sie zu, die die Prinzessin noch nie zuvor im Schloss gesehen hatte.

Die alte Frau blickte in das tränenbenetzte Gesicht der Prinzessin und sprach: „Weine nicht, mein Kind. Ich weiß was dich bedrückt und bin gekommen um dir meine Hilfe anzubieten. Wenn du das Geheimnis deiner Schwermut lüften willst, dann folge mir.“ Uns so nahm die alte Frau die Prinzessin bei der Hand und führte sie durch die Gärten des Schlosses hinaus, über die Felder bis sie den Wilden Wald erreichten. Tief ins Herz des Wilden Waldes führte die alte Frau die Prinzessin, durch Dornenhecken und über Stock und Stein, bis sie an einer Quelle angelangt waren, in der sich das Licht des Vollmonds spiegelte. Die alte Frau ließ die Prinzessin an den Rand der Quelle treten. „Beug dich über das Wasser“, sprach sie „und wasche deine Tränen mit dem Wasser der Quelle ab. Dann sieh hinein.“

Die Prinzessin tat, wie ihr geheißen war, und als sie in die Quelle blickte, stiegen aus der Tiefe des Wassers Bilder auf. Die Prinzessin sah ein kleines Mädchen durch den Wilden Wald tollen, das mit Kaninchen, Füchsen und Rehen spielte und sich von Bäumen Geschichten erzählen ließ. Da kehrte die Erinnerung der Prinzessin zurück, die sie nach dem Sturz verloren hatte, und als sie von der Quelle aufblickte, erkannte die Prinzessin in der alten Frau ihre eigene Großmutter. Voller Freude umarmten die Frauen sich und wieder liefen Tränen über das Gesicht der Prinzessin. Doch diesmal waren es Freudentränen und die Prinzessin kehrte mit ihrer Großmutter zurück in das kleine Haus im Wilden Wald.

Viel gab es zu erzählen, vieles war zu tun, und wenn die Prinzessin nach einem langen Tag zu Bett ging, war sie zufrieden. Das Wissen, das die Großmutter damals dem kleinen Mädchen weitergegeben hatte, wurde wieder geweckt und neues Wissen aus dem Wilden Wald kam hinzu. Manchmal dachte die junge Frau an den König zurück, an das wunderschöne Schloss und an den jungen Prinzen, der um ihre Hand angehalten hatte. Doch dann sah sie ihre Großmutter und wusste wieder, warum sie im Wilden Wald geblieben war.

So gingen die Jahreszeiten ins Land, und als ein Jahr und ein Tag vergangen war klopfte es eines Morgens an die Tür des kleinen Häuschens. Die junge Frau öffnete, verwundert wer denn wohl den Weg hierher gefunden haben mochte. Es war niemand anderes als der junge Prinz, der so beständig um sie geworben hatte. Er umarmte sie voller Freude. „Endlich habe ich dich gefunden!“, rief er, „In allen vier Winden habe ich nach dir gesucht!“ Dann kniete er vor ihr nieder und bat sie erneut um ihre Hand und ihr Herz. Da hob sich auch der letzte Rest Traurigkeit vom Herzen der Prinzessin und sie willigte mit Freuden ein. Die Großmutter trat zu dem jungen Paar hinzu und segnete die Verbindung. Dann ritten alle zum Schloss des Königs zurück. Auch hier war die Wiedersehensfreude übergroß und sogleich wurde mit den Vorbereitungen für die Hochzeit begonnen. Drei Tage lang wurde das Freudenfest gefeiert, und übers Jahr gebar die Prinzessin ihr erstes Kind. Sie lebte glücklich und zufrieden mit ihrem Gemahl und ihren Kindern im Schloss.

Doch auch das Wissen aus dem Wilden Wald wurde nicht vergessen. Die Prinzessin ehrte und pflegte es und besuchte regelmäßig ihre Großmutter in ihrem Häuschen. Als ihre Kinder alt genug waren, brachte die Prinzessin auch ihnen die Sprache der Tiere und der Pflanzen bei und lehrte sie alles, was sie wusste.